
Sie nennen es „Platte“ machen. Auf dem Asphalt zu schlafen ist hart, nicht nur in physischer Hinsicht. Man geht dabei drauf, der Stein zerreibt einen. „Weiße Folter“ nennt man Folter, die ohne sichtbare Spuren auskommt. Wer meint, weiße Folter sei harmloser, da man keinen großen Schmerzen ausgesetzt wird, irrt. Sie ist geeignet, eine Persönlichkeit komplett auszulöschen. Eine ihrer Methoden ist die gezielte Verwahrlosung. Insofern kann man den nach Urin stinkenden, vollkommenen heruntergekommenen Plastiktütenpenner als Folteropfer sehen. Das Ärzteblatt berichtet:
Viele Obdachlose hätten keinen Zugang zur Regelversorgung und kämen mit oft schweren Krankheiten und Verletzungen in Rettungsstellen, um anschließend gleich wieder auf der Straße zu landen. Betroffene litten unter offenen Beinen, Knochenbrüchen, Läusen, Hautkrankheiten oder Bronchitis, aber auch unter psychischen Erkrankungen und Angststörungen. Hinzu kämen Drogen und Alkohol.
Manche Obdachlose seien hoch verschuldet und auf der Suche nach Hilfe mit der Bürokratie überlastet. Auch in Obdachlosenheimen sei die Situation oft sehr schwierig. Die Ärztin versicherte nach langjähriger Erfahrung, kein Mensch sei freiwillig auf der Straße.

Mit Frauen an der Macht wird alles besser.
Demgegenüber ist es ein beliebter Mythos, dass sich Obdachlose freiwillig dieser Tortur aussetzen würden. So erklärte mir mal ein Wohlstandssohn, man müsse nur den Weg zur richtigen Behörde finden und man hätte ein Dach über dem Kopf. Damit redet man sich die Verhältnisse schön in der neoliberalen Gesellschaft, in welcher der Arme „selbst schuld“ ist oder es so will. Aber: Tatsächlich besteht ein Rechtsanspruch auf eine Unterkunft, womit das Problem ja gelöst ist: Kommt eine Gemeinde ihrer Pflicht nicht nach, schickt der Obdachlose sein Team aus Spitzenanwälten vor.
Ich war früher Linksfeminist, was hieß, dass ich als Linker solidarisch mit Obdachlosen war. Es hieß nicht, dass mich ihr Geschlecht aufmerken ließ. Ich konnte voll und ganz dem feministischen Weltbild vom privilegierten Mann und der Propagandalüge, Armut sei weiblich, anhängen, ohne eine Widerspruch darin zu sehen, dass fast alle Obdachlosen – also die Ärmsten der Armen – Männer waren, oder dass ich so gut wie nie eine weibliche sah, denn: Frauen ziehen sich halt aus der Öffentlichkeit zurück, da es dort für sie zu gefährlich ist. Nur: Wenn sie einen Rückzugsort haben, dann haben sie einen Rückzugsort – den Männer nicht haben. Wenn ich auf mein früheres Ich zurückblicke, kann ich mich nur wundern, wie blind ich gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen war.

Wohnungslose sind zu 75% männlich und inzwischen hat (möglicherweise) ihre Zahl die Millionengrenze überschritten; eine Folge des neoliberalen Sozialabbaus. Wenn dieses Geschlechterverhältnis getauscht wäre, wie es eigentlich sein müsste, wenn Frauen strukturell benachteiligt wären, würde man darüber reden, es thematisieren. So wie man regelmäßig die Lohnlüge verbreitet oder über den Mangel an Führungsfrauen berichtet, so regelmäßig würde man über Obdachlose sprechen – und es würde Hilfe mobilisiert werden. Männer überlässt man wie so oft sich selbst, mit Konsequenzen. In Randmeldungen notiert man öfters, dass Wohnungslose verstorben sind: Obdachloser in Kälte verstorben, Tote unter Obdachlosen mehr als verdoppelt, drei Obdachlose verstorben, Obdachlose und Flüchtlinge sterben in Kältewelle, tote Obdachlose in Hamburg.
Gegen obdachlose Männer wirkt wie sonst überall auch der Empathy-Gap. So berichtet die Welt:
In Wien lag ein sterbender Obdachloser stundenlang im Aufzug einer U-Bahn-Station, ohne dass ihm geholfen wurde. Videos zeigen mehrere Passanten, die achtlos über den Mann hinwegstiegen.
Es ist aber nicht nur so, dass man sie ignoriert. Als wäre das Leben nicht schon hart genug zu ihnen, werden sie auch noch von Nazis angefeindet und Opfer gewalttätiger Übergriffe. Zu einem Fall, bei dem versucht wurde, einen Obdachlosen anzuzünden, zitiert die FAZ: Ich mache meinen Job seit 24 Jahren und seitdem gehören Übergriffe auf Obdachlose leider zu meinem Alltag. Oder sie werden verhöhnt, so weiß bspw. eine Spezialdemokratin, dass männliche Obdachlose im Gegensatz zu weiblichen ihre Not feiern würden. Woanders erklärt man, dass es Frauen besonders schwer haben, denn:
– Ihre Gesundheit wird zu einem großen Teil durch Vorsorgeuntersuchungen geschützt, und wenn man diese verpasst, könnte das lebensbedrohlich sein.
– Obdachlose Frauen haben oft emotionale und seelische Probleme.
– Obdachlose Frauen sind vom Leben ganz schön fertig gemacht worden.
– Obdachlose Frauen haben keine Adresse.
– Obdachlose Frauen haben kein Telefon.
– Obdachlose Frauen sitzen oft in derselben Notunterkunft, ohne miteinander befreundet oder durch das Gefühl verbunden zu sein „Wir stecken alle zusammen in diesem Schlamassel.“
– Obdachlosen Frauen geht es ganz schön mies.
Sie werden ignoriert und angegriffen, oder man will unbequeme Studienergebnisse über ihre Situation geheimhalten. Die Gewalt gegen Obdachlose geht also auch von den Institutionen aus, zum Beispiel:
Zwei obdachlose Brüder, beide Verkäufer der Straßenzeitung, treffen in Dortmund auf einen weiteren Obdachlosen. Damit war auch nach Ansicht des Ordnungsamts der Stadt Dortmund die Zahl der erlaubten Personen (damals zwei) überschritten. Dass die Brüder gemeinsam in einem Zelt – also einem Haushalt – wohnen, spielte dabei keine Rolle. Der Verstoß laut Coronaschutzverordnung: „Verbotswidrige Teilnahme an einer Zusammenkunft oder Ansammlung im öffentlichen Raum von mehr als zwei Personen“. Die Kosten: Jeweils 200 Euro Geldbuße, 25 Euro Gebühr plus 3,50 Euro Auslagen. Also für jeden 228,50 Euro.
In ihrer Not setzt man ihnen nochmal zu. Hier, wie auch für Suizidgefährdete oder Trennungsväter, wirkt sich die Mitgefühlskälte gegenüber Männern besonders grausam aus – eine Kälte, die den Holocaust und andere Verbrechen erst möglich machte.

Siehe auch Das Alternativlos-Aquarium: Tag der Geschlechter-Empathielücke: Ganz unten
Asemann: Am 11. Juli ist Gender Empathy Gap Day
Apokolokynthose: Happy Gender Empathy Gap Day (pünktlich)
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