Antje zog sich aus, wie es ihr gesagt wurde. Slip und BH behielt sie an. Der Arzt machte eine herrische Geste: „Ganz bitte sehr!“
Antje sah zu der Schreibkraft rüber. Der junge Mann, der in ihrem Alter war, grinste. Sie deutete auf den Sichtschirm, der an der Wand lehnte.
„Können wir den bitte aufstellen?“ fragte sie zaghaft.
„Nein, die Kommandatur hat angeordnet, dass er nicht mehr verwendet werden darf, und jetzt ausziehen, los, los, keine falsche Scham!“
Antje zog auch noch die letzten Kleidungsstücke aus und stand so nun völlig ungeschützt in dem kahlen Raum. Der Arzt nahm die Untersuchung der Brüste und der Vulva vor, ob sie zum Gebären geeignet wären.
„Sieht gut aus. Und jetzt vorbeugen, mit den Händen nach hinten greifen und die Pobacken spreizen.“
Antje lief rot an aber tat wie geheißen. Während sie so dastand, und der Arzt die Analuntersuchung vornahm dachte sie an den Appell, den Albert Schwarzer vor ein paar Tagen veröffentlicht hatte. Darin forderte er, dass auch Männer den Grunddienst leisten dürfen sollten. Antje konnte sich nicht erinnern, dass in ihrem Musterungsbescheid etwas von „dürfen“ gestanden hätte. Stattdessen die unverhohlene Drohung, dass man in den Knast wandern würde, wenn man nicht zum festgelegten Termin erschien.
Als ob der Arzt ihre Gedanken gelesen hätte, sprach er das Thema an:
„Haben Sie das mit diesem irren Schwarzer mitgekriegt? Ich halte nichts davon, die Männer haben schon genug damit zu tun, die Kinder zu hüten, jetzt sollen sie auch noch zum Grunddienst? Erst freiwillig und dann verpflichtend, oder was? Sie können sich wieder anziehen. Sehr schön übriges, sehr gebärfreudig, ich denke ich stufe ihre Tauglichkeit auf K3 ein.“ Das hieß drei Kinder, aber Antje war erleichtert wieder in ihre Klamotten schlüpfen zu können. Aber sie stimmte den Arzt zu. An alt hergebrachten Werten sollte man nicht rütteln. Jeder leistete seinen Teil für die Gesellschaft. Die Frauen leisteten Gebärdienst, gingen arbeiten und die Männer hüteten die Kinder.
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn sie morgen kommen und dir den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London, du, am Hoangho und am Mississippi, du, Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo — Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären, Krankenschwestern für Kriegslazarette und neue Soldaten für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins:
Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!
Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nein sagt, Mütter, dann:
wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unübersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen betonklotzigen verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästernd, klagend — und seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört in der Steppe verrinnen, durch die geborstenen Ruinen wehen, versickern im Schutt der Kirchen, gegen Hochbunker klatschen, in Blutlachen fallen, ungehört, antwortlos, letzter Tierschrei des letzten Tieres Mensch – all dieses wird eintreffen, morgen, morgen vielleicht, vielleicht heute nacht schon, vielleicht heute nacht, wenn – wenn – wenn ihr nicht NEIN sagt.
(Wolfgang Borchert)
Wieviele Mütter sagen NEIN?